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  Sein Werk:
Grundgedanke der Staatslehre

Wie in der Ethik im allgemeinen distanzierte sich Aristoteles auch in der Staatslehre von Platon, namentlich von dessen Staatsphilosophie, die er im zweiten Buch der „Politik“ kritisierte. Gegen Platons Verfassungsentwurf wandte er ein, daß die scharfe Trennung der Stände die Staatseinheit aufzuheben drohe. Außerdem hielt er die in Platons „Staat“ skizzierte Verfassung wegen ihres zwanghaften (heute würden wir sagen: kommunistischen) Charakters nicht für praktikabel.

Als positive, dem Interesse der Gemeinschaft dienende Verfassungen betrachtete Aristoteles Monarchie, Aristokratie und Polis-Verfassung. Jede dieser Verfassungen kann jedoch entarten, wenn das Sonderinteresse eines einzelnen, einer Gruppe oder der Masse an die Stelle des Gemeinschaftsinteresses tritt, und zwar die Monarchie zur Tyrannis, die Aristokratie zur Oligarchie und die Polis-Verfassung zur (egalitären Massen-)Demokratie.

Aristoteles Staat soll überschaubar sein, damit das Volk seine Stimme geltend machen kann, er soll ständisch gegliedert sein, um der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Bürger Rechnung zu tragen, er soll dem Vermö-gen eine angemessene politische Rolle einräumen, wobei die Besitzlosen von den politischen Rechten ausgeschlossen bleiben, und er soll saturiert sein, so daß er nicht zu expandieren trachtet und das Heer nicht auf An-griffskriege eingestellt ist. Die Frage nach dem besten Staat wird überhaupt nicht beantwortet. Deshalb ist bei Aristoteles die Frage nach der besten Verfassung, die abhängig von den jeweiligen Verhältnissen ist wichtiger als die Diskussion über die beste theoretische Verfassung losgelöst von jeder Realität. Je nach dem Stärkeverhältnis der Klassen und nach der Verteilung des Vermögens, der Bildung, der Freiheitsrechte wird bald eine demokrati-sche, bald eine oligarchische Verfassung am Platze sein. Die Polis-Verfassung bietet sich dagegen an, wo das Übergewicht beim Mittelstand liegt und die Vermögensverteilung möglichst gleichgewichtig ist. Das Prinzip der Mitte, das in der Moralphilosophie eine wichtige Rolle spielt, kommt damit auch in der Staatsphilosophie zur Anwendung. So gelten Oligarchie und Demokratie als Extreme, zwischen denen die Polis-Verfassung die Mitte hält und daher den Vorzug verdient.

Wenn Aristoteles zwischen beratenden, ausführenden und richterlichen Be-hörden unterscheidet, dann entspricht das der heutigen Einteilung in legislative, exekutive und judizielle Gewalt, wie sie seit Montesquieu geläufig ist. Die Erörterungen über Einzelheiten der Staatsverwaltung, denen Aristoteles seine Aufmerksamkeit schenkte, gehören eigentlich nicht mehr zur Staatsphilosophie, sondern fallen in den Bereich des Verwaltungsrechts.

Die aristotelische Staatslehre war auf einen griechischen Kleinstaat zuge-schnitten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er auf die Situation von verschiedenen Staaten Rücksicht genommen hatte, die, wie die griechi-schen Poleis nach der Unterwerfung unter Alexander, in Abhängigkeit von einer Großmacht im Windschatten der großen Geschichte lagen?

Man muss sich vor Augen halten, dass nur zweieinhalb Jahrhunderte nach den ersten tastenden Anfängen des philosophischen Denkens ein System wie das Aristotelische entstand, über diese schnelle Entwicklung kann man nur staunen. Im weiteren Verlauf entstanden verschiedene neue Systeme, doch die Phase der Grundlegung der Philosophie als Wissenschaft fand mit Platon und Aristoteles ihren Abschluß. Die weitere Geschichte des antiken Denkens zeigt eine Entwicklung innerhalb der konstituierten Philosophie, was sich auch darin äußert, dass von nun an nicht mehr philosophiert werden konnte, ohne daß man sich mit älteren Auffassungen, namentlich mit den Lehren Platons und Aristoteles, auseinandersetzte.


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