Rezension von
Prof.
Dr.
jur.
Axel
Saipa, Sylvia Remé,
Werner Holtfort. Biographie eines Anwalts und Politikers in den 70er und
80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Niedersachsen, Werner Holtfort (1920 - 1992), Abitur 1938, begeisterter Berufsoffizier im Zweiten Weltkrieg mehrfach verwundet, hoch dekoriert, aus konservativ-gutbürgerlicher Familie in Hannover, erst 1947/48 in Göttingen zum Jura-Studium zugelassen, schon 1950 Referendar-Examen, 1953 mit „sehr gut" promoviert mit einer Dissertation bei Hans Welzel über Rechtsirrtum und Schuld, Referendarverbandsvorsitzender. 1954 Assessor-Examen, Anwaltsassessor. 1955 Zulassung als Rechtsanwalt, 1960 als Notar. Erfolgreiche Tätigkeit in einer lukrativen Gemeinschaftspraxis mit Schwerpunkt „Wirtschaftsrecht", 1965 in Celle Präsident der Notarkammer, 1968 Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer. Damit war in den Nachkriegsjahren der Einstieg in ein angenehmes Juristen-Berufsleben gesichert - das ist Kapitel 1 „Prägungen" der vorzüglichen Dissertation von Sylvia Remé „Werner Holtfort", entstanden in den Jahren 2004 bis 2009 bei Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer, dem großen Kenner und Vermittler niedersächsischer Landesgeschichte an der Leibniz Universität Hannover, und dem Zweitgutachter Prof. Rolf Wernstedt, ehemaliger Landtagsabgeordneter, Kultusminister und Landtagspräsident in Hannover. Nach den „Prägungen" wird Sylvia Remé analytisch, gleichsam interdisziplinär spannend zwischen gesellschaftlich-politischen und persönlich-psychologischen Forschungen, wenn sie Holtfort im Wandel vorn arrivierten Rechtsanwalt, Notar und Standesvertreter zu einem kritisch- kämpferischen, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde ins Zentrum rückenden „homo politicus" darstellt. Und da zeigt sich, welche eindrucksvolle, auch widersprüchliche, singuläre Persönlichkeit dieser scharfsinnige Advokat, Politiker, Charmeur, Weinliebhaber, Sprachpurist, Zinnfiguren-Sammler und Tierfreund war, der mit Cape und Fahrrad von der Praxis in den Landtag fuhr, im Frack beim Juristenball eine ebenso gute Figur machte wie im roten Cordanzug beim SPD-Ortsverein oder im Arbeiter- Wahlkreis Hannover-Linden, den er deutlich vor seiner Mitbewerberin Birgit Breuel (ehemalige Wirtschaftsministerin im Kabinett Albrecht und EXPO-Akquisiteurin für Hannover) gewann und der er mit Handkuss seinen Respekt bezeugte Seine standespolitische Tätigkeit in den Kammern ab Mitte der 60er-Jahre, die über Spargelessen und Regularien hinausgehen sollte, endete infolge des "Welfenstreits" 1973 und der Affäre "Schmidt-Rux" 1975. Beim 19. Notartag in Hannover 1973 hielt H. eine politisch ironische Rede (S. 267) über die Hannoveraner auf dem britischen Königsthron (Personalunion 1714 bis 1837), die ihn die Präsidentschaft bei den Notaren kostete, weil er den Welfen-Block der Celler Juristen unterschätzt hatte. Es kam zu Verfahren aller Art bis zum Generalstaatsanwalt, schließlich zur Schlichtung mit Ehrenerklärungen. Die Affäre „Schmidt-Rux" war anders als der von außen gesehene komödiantische Welfenstreit von tragischen Dimensionen, denn H. selbst hatte im Kammervorstand die Zulassung dieses im Krieg als (vermeintlicher) Oberregierungsrat bei der OFD Danzig tätigen und nach dem Krieg zum Präsidenten der Steuerberaterkarmmer avancierten Juristen empfohlen, musste aber sieben Jahre später im Stern lesen, dass Schmidt-Rux eigentlich Schmidt-Römer hieß und Reichsamtsleiter in der Reichskanzlei Martin Bormanns gewesen war. H's jahrelanger Kampf um die Rücknahme der Zulassung scheiterte am Justizministerium und an der Rechtsanwaltskammer; er brachte ihm auch noch Brandanschläge und Drohbriefe ein.
Den Standesvertretungen
eine kritische
und objektive
Bewertung solcher
Vorgänge
nicht
mehr
zutrauend,
schuf
sich
H. - das
schildert
Remé
im
2.
Kapitel,
S
71
ff.
-
zusammen
mit
anderen
engagierten
hannoverschen
Rechtsanwälten
eine
eigene
publizistische
Bühne für
eine
substanzielle,
parteiübergreifende
Diskussion,
für
den
kritischen
Diskurs
rechts-
und
justizpolitischer
Fragen,
nämlich
die
Zeitschrift
„einspruch
".
1977 übernahm
H.
den
Vorsitz
der
bundesweiten
Anwaltsvereinigung
„Freie
Advokatur",
nachdem
er
den
Deutschen
Anwaltsverein
und
den
Hannoverschen
Rechtsanwaltsverein
verlassen
hatte.
Das Spannungsverhältnis
zwischen
dem
„Organ
der
Rechtspflege"
(dazu
auch
S.
86
ff)
und
der
Aufgabe
des
Rechtsanwaltes
als
Interessenvertreter
des
Mandanten
prägte
hier
die
Debatten.
Von
1979 als Gründungs-Vorsitzender bis
zu
seiner
Wahl
zum
Ehrenvorsitzenden
1986
artikulierte
sich
H.
maßgeblich
für den
Republikanischen
Anwaltsverein
.
Remé
beschreibt
mit
viel
Tiefe
und Kapitel 4 muss Kenner der politischen Szene in Hannover begeistern: Ein bürgerlich-intellektueller Spitzenanwalt, seit 1970 in der SPD, schafft 1981 die Kandidatur zum Landtag in einem als traditionell links geltenden Wahlkreis in den Stadtbezirken Linden/Ricklingen ("Hanomag") gegen H. Schmalstieg (1972 bis 1996 ehrenamtlicher, 1996 bis 2006 hauptamtlicher OB in Hannover). G. Schröder, der H. später einmal als Restrisiko der SPD bezeichnete, und P. v. Oertzen sollen den „Herrenreiter" (H war Kavallerist) bzw. die „Orchidee im Kräutergarten ohne Stallgeruch" (so zwei SPD-Politiker aus Linden) durchgesetzt haben, wobei R. Wemstedt erklärte, damals hätte jeder im roten Linden gewonnen, ein CDU-Kandidat hätte keine Chance gehabt (S. 123). 1982 bis 1990 war H. neben seiner Anwalts- u. Notartätigkeit Landtagsabgeordneter. Er engagierte sich vielfältig, kritisch und zeitaufwändig, wenn er neben Plenar-, Ausschuss- und Fraktionstätigkeit auch noch morgens um 5.30 am Hanomag-Werktor den Arbeitern zuhörte und erst abends in die Kanzlei zurückkam. Politische Schwerpunkte waren das freie Mandat, der Kampf für Bürgerrechte, gesetzliche Regelungen der Geheimdienste, gegen Polizei-Geheimagenten, für Asylrecht und Demonstrationsfreiheit, gegen die überbordende Speicherung von Personendaten, für eine Parlamentsreform und für einen Petitionsausschuss. Dass H. hin und wieder als Schalk im Parlament auftrat mit Anfragen, die ironisch, spaßhaft und unernst waren (Schlesienpreis, gelb-weiße Postenhäuschen an den niedersächsischen Grenzpfählen, Forschungsförderung bei der Befruchtung sudanesischer Dromedarstuten, S. 142 ff.), korrespondiert mit anderen öffentlichen Auftritten, etwa als König Georg V. nach Langensalza 1866 vor dem hannoverschen Hauptbahnhof (S. 168), worin auch H's unbändiges Interesse an Geschichte und sein besonders kritisches Verhältnis zu den Welfen zum Ausdruck kommen. Remé trägt sorgfältig zusammen seine 8-jährigen parlamentarischen Aktivitäten, oft gekennzeichnet von der Provokation als politisches Mittel und mit einem Bewusstsein der Unabhängigkeit des (wirtschaftlich abgesicherten) Abgeordneten, die wichtiger ist als die Fraktionsdisziplin, aber immer loyal gegenüber der Partei und im Ganzen auf der Linie (S. 144, 154). Zum Parlamentarier Werner Holtfort äußern sich interessante Zeitzeugen in Sylvia Remés Arbeit, die H. auch als hervorragenden Staatssekretär oder Justizminister sahen (S, 127, 128), was aber angesichts des erst 1990 erfolgten Regierungswechsels kein Thema sein konnte. Die Persönlichkeit H. wäre ohne die Mitwirkung in der Humanistischen Union (S. 155), die Mitbegründung der Knigge-Gesellschaft zur Erinnerung an diesen vorzüglichen Aufklärer (S. 165), die Initiative für das Denkmal "Göttinger Sieben" (S. 171) oder - nicht institutionell, sondern ganz persönlich - das Eingreifen oder Mitwirken bei politischen Demonstrationen (S. 155 ff. Mutlangen, Göttingen) nicht vollständig. Persönliche Neigungen und Liebhabereien (Kapitel 7), z. B. die oft „hinterfragte" militärische Zinnfigurensammlung, runden Remés Bild von H. ab - Vielseitigkeit zeichnete ihn aus. Dass er Orden und Auszeichnungen erhielt, das Bundesverdienstkreuz L Klasse aber 1988 nach 15 Jahren zurückgab, weil es die 26-jährige Tochter von Franz Josef Strauß für ihr „soziales Engagement" in der Marianne-Strauß-Stiftung erhalten hatte, dass ihm das Große Niedersächsische Verdienstkreuz 1977 verweigert, aber dann 1992 verliehen wurde, dass 1977 die Berufung in den StGH scheiterte und dies erst 1991 durch die Berufung als stellvertretendes Mitglied halbwegs korrigiert wurde - dies alles zeigt die oft fehlende Souveränität bei der Ehrung von Leuten, die sich um das Gemeinwesen verdient machen. Ein Weg in Hannover aber ehrt diesen Demokraten, Advokaten, Politiker und eindrucksvollen Menschen ebenso dauerhaft wie die Festschrift „Rechtspolitik mit aufrechtem Gang" zum 70. Geburtstag 1990, seine 22 Publikationen und die testamentarische Werner- Holtfort- Stiftung zur Bildung und Förderung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten. Sylvia Remé ist sehr dafür zu danken, dass sie in einer vorzüglich geschriebenen und die Stofffülle tadellos bewältigenden historischen Biographie (allein die Liste der 46 befragten „Zeugen" liest sich wie ein niedersächsisches „who is who" von Politik, Journalismus und Juristerei) das Lebenswerk eines hannoverschen Juristen dokumentiert, dem der Rezensent vielfältig verbunden war. Die Schilderung seiner Motive und seines vorbildhaften Handelns in der ihn umgebenden politischen Landschaft nicht nur der 70er- und 80er- Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern auch in den wegweisenden Jahren davor, hat neben dem biographischen einen großen historischen Wert.
Regierungspräsident a. D. Honorarprofessor Dr. jur. Axel Saipa; L. L. M (Univ. of California), vormals Oberkreisdirektor Goslar und Stadtdirektor Lehrte, Ref. und Doz. im MI, NDR und BezReg. Hannover
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