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Rezension von Prof. Dr. jur. Axel Saipa,
Veröffentlicht in : NdsVBl. Heft 8/2011

Sylvia Remé, Werner Holtfort. Biographie eines Anwalts und Politikers in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Niedersachsen,
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2011, 276 Seiten, € 39,90

Werner Holtfort (1920 - 1992), Abitur 1938, begeisterter Berufsoffizier im Zweiten Weltkrieg mehrfach verwundet, hoch dekoriert, aus konservativ-gutbürgerlicher Familie in Hannover, erst 1947/48 in Göttingen zum Jura-Studium zugelassen, schon 1950 Referendar-Examen, 1953 mit „sehr gut" promoviert mit einer Dissertation bei Hans Welzel über Rechtsirrtum und Schuld, Referendarverbandsvorsitzender. 1954 Assessor-Examen, Anwaltsassessor. 1955 Zulassung als Rechtsanwalt, 1960 als Notar. Erfolgreiche Tätigkeit in einer lukrativen Gemeinschaftspraxis mit Schwerpunkt „Wirtschaftsrecht", 1965 in Celle Präsident der Notarkammer, 1968 Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer. Damit war in den Nachkriegsjahren der Einstieg in ein angenehmes Juristen-Berufsleben gesichert - das ist Kapitel 1 „Prägungen" der vorzüglichen Dissertation von Sylvia Remé „Werner Holtfort", entstanden in den Jahren 2004 bis 2009 bei Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer, dem großen Kenner und Vermittler niedersächsischer Landesgeschichte an der Leibniz Universität Hannover, und dem Zweitgutachter Prof. Rolf Wernstedt, ehemaliger Landtagsabgeordneter, Kultusminister und Landtagspräsident in Hannover.

 Nach den Prägungen" wird Sylvia Re analytisch, gleichsam interdisziplinär spannend zwischen gesellschaftlich-politischen und persönlich-psychologischen Forschungen, wenn sie Holtfort im Wandel vorn arrivierten Rechtsanwalt, Notar und Standesvertreter zu einem kritisch- kämpferischen, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde ins Zentrum ckenden homo politicus" darstellt. Und da zeigt sich, welche eindrucksvolle, auch widersprüchliche, singuläre Persönlichkeit dieser scharfsinnige Advokat, Politiker, Charmeur, Weinliebhaber, Sprachpurist, Zinnfiguren-Sammler und Tierfreund war, der mit Cape und Fahrrad von der Praxis in den Landtag fuhr, im Frack beim Juristenball eine ebenso gute Figur machte wie im roten Cordanzug beim SPD-Ortsverein oder im Arbeiter- Wahlkreis Hannover-Linden, den er deutlich vor seiner Mitbewerberin Birgit Breuel (ehemalige Wirtschaftsministerin im Kabinett Albrecht und EXPO-Akquisiteurin für Hannover) gewann und der er mit Handkuss seinen Respekt bezeugte

Seine standespolitische Tätigkeit in den Kammern ab Mitte der 60er-Jahre, die über Spargelessen und Regularien hinausgehen sollte, endete infolge des "Welfenstreits" 1973 und der Affäre "Schmidt-Rux" 1975. Beim 19. Notartag in Hannover 1973 hielt H. eine politisch ironische Rede (S. 267) über die Hannoveraner auf dem britischen Königsthron (Personalunion 1714 bis 1837), die ihn die Psidentschaft bei den Notaren kostete, weil er den Welfen-Block der Celler Juristen unterschätzt hatte. Es kam zu Verfahren aller Art bis zum Generalstaatsanwalt, schließlich zur Schlichtung mit Ehrenerklärungen. Die Affäre Schmidt-Rux" war anders als der von außen gesehene komödiantische Welfenstreit von tragischen Dimensionen, denn H. selbst hatte im Kammervorstand die Zulassung dieses im Krieg als (vermeintlicher) Oberregierungsrat bei der OFD Danzig tätigen und nach dem Krieg zum Präsidenten der Steuerberaterkarmmer avancierten Juristen empfohlen, musste aber sieben Jahre später im Stern lesen, dass Schmidt-Rux eigentlich Schmidt-Römer hieß und Reichsamtsleiter in der Reichskanzlei Martin Bormanns gewesen war. H's jahrelanger Kampf um die Rücknahme der Zulassung scheiterte am Justizministerium und an der Rechtsanwaltskammer; er brachte ihm auch noch Brandanschläge und Drohbriefe ein.

Den Standesvertretungen eine kritische und objektive Bewertung solcher Vorgänge nicht mehr zutrauend, schuf sich H. - das schildert Remé im 2. Kapitel, S 71 ff. - zusammen mit anderen engagierten hannoverschen Rechtsanlten eine eigene publizistische Bühne für eine substanzielle, parteiübergreifende Diskussion, für den kritischen Diskurs rechts- und justizpolitischer Fragen, nämlich die Zeitschrift „einspruch ". 1977 übernahm H. den Vorsitz der bundesweiten Anwaltsvereinigung „Freie Advokatur", nachdem er den Deutschen Anwaltsverein und den Hannoverschen Rechtsanwaltsverein verlassen hatte. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Organ der Rechtspflege" (dazu auch S. 86 ff) und der Aufgabe des Rechtsanwaltes als Interessenvertreter des Mandanten prägte hier die Debatten. Von 1979 als Gründungs-Vorsitzender bis zu seiner Wahl zum Ehrenvorsitzenden 1986 artikulierte sich H. maßgeblich für den Republikanischen Anwaltsverein . Re beschreibt mit viel Tiefe und
um
fangreichen Quellen - u. a. hier wie im gesamten Buch aus dem Nachlass H's in der Leibniz-Bibliothek - den Einsatz für die Stellung des Rechtsanwaltes und - in den späteren 70er-Jahren - den Kampf gegen die Verunglimpfung bestimmter Kollegen als Terrorismus-Anwälte oder Sympathisanten. Im 3. Kapitel (S. 95 ff.) wird H's Rolle in politischen Verfahren dieser Zeit untersucht. Diese Passagen haben nicht nur eine beachtliche zeitgeschichtliche Dimension, sondern sie erklären auch H's. spätere politische, vor allem rechts- und justizpolitische Aktivitäten mit seinen Bemühungen um rechtsstaatlich einwandfreie Verfassungsschutz- oder Datenspeicherungsregelungen. Seinen effektiven Einsatz für die Juristenausbildungsreform in der Wassermann-Kommission (1971/72) beim MJ zur Konzeption der einstufigen Juristenausbildung und die Mitwirkung an der Gründung der hannoverschen Juristenfakultät, die ab 1974/75 das Hannover-Modell anbot, sowie das Ende des Modells 1984 schildert Remé sehr präzise (S. 89 ff.)
.

 Kapitel 4 muss Kenner der politischen Szene in Hannover begeistern: Ein bürgerlich-intellektueller Spitzenanwalt, seit 1970 in der SPD, schafft 1981 die Kandidatur zum Landtag in einem als traditionell links geltenden Wahlkreis in den Stadtbezirken Linden/Ricklingen ("Hanomag") gegen H. Schmalstieg (1972 bis 1996 ehrenamtlicher, 1996 bis 2006 hauptamtlicher OB in Hannover). G. Schröder, der H. später einmal als Restrisiko der SPD bezeichnete, und P. v. Oertzen sollen den „Herrenreiter" (H war Kavallerist) bzw. die „Orchidee im Kräutergarten ohne Stallgeruch" (so zwei SPD-Politiker aus Linden) durchgesetzt haben, wobei R. Wemstedt erklärte, damals hätte jeder im roten Linden gewonnen, ein CDU-Kandidat hätte keine Chance gehabt (S. 123). 1982 bis 1990 war H. neben seiner Anwalts- u. Notartätigkeit Landtagsabgeordneter. Er engagierte sich vielfältig, kritisch und zeitaufndig, wenn er neben Plenar-, Ausschuss- und Fraktionstätigkeit auch noch morgens um 5.30 am Hanomag-Werktor den Arbeitern zuhörte und erst abends in die Kanzlei zurückkam. Politische Schwerpunkte waren das freie Mandat, der Kampf für rgerrechte, gesetzliche Regelungen der Geheimdienste, gegen Polizei-Geheimagenten, für Asylrecht und Demonstrationsfreiheit, gegen die überbordende Speicherung von Personendaten, für eine Parlamentsreform und für einen Petitionsausschuss. Dass H. hin und wieder als Schalk im Parlament auftrat mit Anfragen, die ironisch, spaßhaft und unernst waren (Schlesienpreis, gelb-weiße Postenhäuschen an den niedersächsischen Grenzpfählen, Forschungsförderung bei der Befruchtung sudanesischer Dromedarstuten, S. 142 ff.), korrespondiert mit anderen öffentlichen Auftritten, etwa als König Georg V. nach Langensalza 1866 vor dem hannoverschen Hauptbahnhof (S. 168), worin auch H's unbändiges Interesse an Geschichte und sein besonders kritisches Verhältnis zu den Welfen zum Ausdruck kommen. Remé trägt sorgfältig zusammen seine 8-jährigen parlamentarischen Aktivitäten, oft gekennzeichnet von der Provokation als politisches Mittel und mit einem Bewusstsein der Unabhängigkeit des (wirtschaftlich abgesicherten) Abgeordneten, die wichtiger ist als die Fraktionsdisziplin, aber immer loyal gegenüber der Partei und im Ganzen auf der Linie (S. 144, 154). Zum Parlamentarier Werner Holtfort äußern sich interessante Zeitzeugen in Sylvia Remés Arbeit, die H. auch als hervorragenden Staatssekretär oder Justizminister sahen (S, 127, 128), was aber angesichts des erst 1990 erfolgten Regierungswechsels kein Thema sein konnte.

 Die Persönlichkeit H. wäre ohne die Mitwirkung in der Humanistischen Union (S. 155), die Mitbegründung der Knigge-Gesellschaft zur Erinnerung an diesen vorzüglichen Aufklärer (S. 165), die Initiative für das Denkmal "Göttinger Sieben" (S. 171) oder - nicht institutionell, sondern ganz persönlich - das Eingreifen oder Mitwirken bei politischen Demonstrationen (S. 155 ff. Mutlangen, Göttingen) nicht vollständig. Persönliche Neigungen und Liebhabereien (Kapitel 7), z. B. die oft „hinterfragte" militärische Zinnfigurensammlung, runden Remés Bild von H. ab - Vielseitigkeit zeichnete ihn aus. Dass er Orden und Auszeichnungen erhielt, das Bundesverdienstkreuz L Klasse aber 1988 nach 15 Jahren zurückgab, weil es die 26-jährige Tochter von Franz Josef Stra r ihr „soziales Engagement" in der Marianne-Strauß-Stiftung erhalten hatte, dass ihm das Große Niedersächsische Verdienstkreuz 1977 verweigert, aber dann 1992 verliehen wurde, dass 1977 die Berufung in den StGH scheiterte und dies erst 1991 durch die Berufung als stellvertretendes Mitglied halbwegs korrigiert wurde - dies alles zeigt die oft fehlende Souveränität bei der Ehrung von Leuten, die sich um das Gemeinwesen verdient machen. Ein Weg in Hannover aber ehrt diesen Demokraten, Advokaten, Politiker und eindrucksvollen Menschen ebenso dauerhaft wie die FestschriftRechtspolitik mit aufrechtem Gang" zum 70. Geburtstag 1990, seine 22 Publikationen und die testamentarische Werner- Holtfort- Stiftung zur Bildung und Förderung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanlten. Sylvia Remé ist sehr dafür zu danken, dass sie in einer vorzüglich geschriebenen und die Stofffülle tadellos bewältigenden historischen Biographie (allein die Liste der 46 befragten Zeugen" liest sich wie ein niedersächsisches „who is who" von Politik, Journalismus und Juristerei) das Lebenswerk eines hannoverschen Juristen dokumentiert, dem der Rezensent vielltig verbunden war. Die Schilderung seiner Motive und seines vorbildhaften Handelns in der ihn umgebenden politischen Landschaft nicht nur der 70er- und 80er- Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern auch in den wegweisenden Jahren davor, hat neben dem biographischen einen gren historischen Wert.

 

Regierungspräsident a. D. Honorarprofessor Dr. jur. Axel Saipa; L. L. M (Univ. of California), vormals Oberkreisdirektor Goslar und Stadtdirektor Lehrte, Ref. und Doz. im MI, NDR und BezReg. Hannover

 

 
 

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